Michel de Montaigne - Biographie
1570
Am 10. April verkauft Michel de Montaigne sein Parlamentsamt an Florimond de Raemond. Sein Entschluss, sich ins Privatleben zurückzuziehen, ist gefallen und er organisiert akkurat den Rückzug:"Es ist kein leichtes Unterfangen, sich mit Sicherheit von der Welt zurückzuziehen: es beansprucht uns vollauf, ohne daß wir noch andere Unternehmungen hinzumengen...Man muss diese starken Bande lösen und noch dies oder jenes gern haben, aber sich an nichts binden als an uns selbst..."
Er reist nach Paris, um nachgelassene Werke seines Freundes La Boëtie herauszugeben (Übersetzung des Xenophon sowie eigene lateinische und französische Gedichte).
1571
Montaigne zieht sich am 28. Februar, seinem 38. Geburtstag, auf Schloss Montaigne in den Schoß der Musen von den öffentichen Geschäften zurück:"Als ich mich unlängst in mein Hauswesen zurückzog, fest entschlossen, mich hinfort so viel wie möglich mit nichts mehr abzugeben, als das Wenige, was mir noch an Leben bleibt, in Ruhe und für mich hinzubringen: da meinte ich, ich könnte meinem Geist mit nichts gefälliger sein, als daß ich ihn in aller Muße sich selbst unterhalten, mit sich selber beschäftigen und verweilen ließe; was ihm, wie ich hoffte, fortan leichter würde, da er mit der Zeit schwerfälliger und reifer geworden sei. Aber ich finde 'variam semper dant otia mentem' daß er im Gegenteil wie ein entlaufener Hengst sich selber hundertmal mehr Plackerei macht, als er je für andere auf sich nahm; und heckt mir soviele Fabelwesen und phantastische Ungeheuer aus, eins übers andere, ohne alle Ordnung und Zusammenhang, daß ich, um sie in Ihrer Verschrobenheit und Wunderlichkeit in aller Ruhe betrachten zu können, über sie Register zu führen begonnen habe und hoffe, ihn mit der Zeit dahin zu bringen, dass er sich des Unfugs selber schämen soll." - die Keimzelle der Essais...
Eine lateinische Inschrift an der Wand der Bibliothek, deren Bücherschatz übrigens größtenteils aus dem Vermächtnis Boeties besteht, lautet auf deutsch: "Im Jahre des Heils 1571, im 38. Lebensjahr, am 28. Februar, seinem Geburtstag, hat sich Michael Montaigne, schon lange müde des Dienstes bei Gericht und in öffentlichen Ämtern, in voller Manneskraft in den Schoß der gelehrten Jungfrauen zurückgezogen, um in Ruhe und aller Sorgen ledig, wenn es das Schicksal ihm vergönnt, den kleinen Rest seines schon zum großen Teil verflossenen Lebens zu vollenden; er hat diese Stätte, diesen teueren von seinen Ahnen ererbten Zufluchtsort, seiner Freiheit, seiner Ruhe und seiner Muße geweiht."
Dort erreicht ihn die Nachricht, dass er zum Ritter des Ordens vom Heiligen Michael, den Ludwig XI. 1469 gründete, ernannt wird (Chevalier de l'ordre de Saint-Michel). Seine Tochter Leonore, das einzige seiner sechs Kinder, dass erwachsen werden wird, erblickt am 9. September das Licht der Welt. Wann genau, das ist nicht sicher: Montaigne läßt in seinen Bibliotheksturm über fünfzig Lebensregeln, zumeist Klassikerzitate(in griechischer, lateinischer, französischer Sprache), in die Deckenbalken einbrennen. Hier die deutsche Übersetzung einzelnen Sprüche, Zitate, Worte:
1. Höchstes Geschick des Menschen ist es, die Dinge zu nehmen wie sie sind und das Übrige nicht zu fürchten.
2. Solche unselige Mühe hat Gott den Menschenkindern gegeben, daß sie sich darin müssen quälen.
3. Die leeren Schläuche bläst der Wind auf, die Toren der Dünkel.
4. Das ist ein böses Ding unter allem, das unter der Sonne geschieht, daß es einem gehet wie dem anderen.
5. Ebensowenig ist es so, noch so, als vielmehr auf keine Weise von beiden.
6. In uns ist alle Kenntnis dessen, was groß oder klein an den Dingen, die Gott so mannigfaltig geschaffen.
7. Ich sehe, daß wir alle, die wir leben, Nichts sind als Schemen oder flüchtige Schatten.
8. Ach, unselige Geister, verblendete Herzen der Menschen! In welch finsterer Nacht und unter welchen Gefahren Wird dies Leben verbracht, der Moment!
9. Wer je an seine Menschengröße glaubt, den stürzt die erste beste Gelegenheit in gänzliches Verderben.
10. Was ist Himmel und Erde und Meer mit allem Umfang Gegen die Summe der Summen des nie zu ermessenden Ganzen?
11. Wenn du einen siehst, der sich weise dünkt, da ist an einem Narren mehr Hoffnung, denn an ihm.
12. Da du nicht weißt, wie die Seele mit dem Körper verbunden ist, kennst du nicht Gottes Werk.
13. Die ist tunlich und nicht tunlich.
14. Bewundernswert ist da Gute.
15. Der Mensch ist wie ein tönernes Geschirr.
16. Wollet nicht klug sein in euren eigenen Augen.
17. Der Aberglaube folgt seiner eigenen Blindheit mit kindlichem Vertrauen.
18. Denn es läßt der Gott nicht zu, daß ein anderer außer ihm sich für groß erachte.
19. Den letzten Tag sollst du nicht fürchten und nicht ersehnen.
20. Du weißt es nicht, ob dies oder das geraten wird; und ob es beides geriete, so wäre es besser.
21. Mensch bin ich, und nichts Menschliches ist mir fremd.
22. Sei nicht allzu gerecht und nicht allzu weise, daß du dich nicht verderbest.
23. Wenn sich jemand einbildet, etwas zu wissen, hat er noch nicht die Einsicht, wie man wissen soll.
24. Wenn jemand, da er noch nichts ist, wähnt, er sei etwas, so irrt er als Tor.
25. Seid nicht weiser als nötig ist, aber freilich mit Maß.
26. Und niemals aber wußte ein Mann etwas Gewisses, noch wird es einer wissen.
27. Wer aber weiß, ob das, was Sterben heißt, nicht Leben, das leben aber Sterben ist?
28. Es ist alles so voll Mühe, daß niemand ausreden kann.
29. Wie hier so dort, ist vielfach der Rede Brauch.
30. Allzusehr ist das Geschlecht der Menschen auf Fabeln erpicht.
31. Wie leer ist doch alles!
32. Alles ist eitel.
33. Maß bewahren, Grenzen einhalten, der Natur folgen.
34. Was überhebst du dich, Staub und Asche?
35. Wehe denen, die bei sich selbst weise sind und halten sich selbst für klug.
36. Drum sehe ich, daß nichts besseres ist, denn daß ein Mensch fröhlich sei in seiner Arbeit; denn das ist sein Teil.
37. Jedem Grunde steht ein gleicher gegenüber
38. Im Dunklen irrt unser Geist, und blind vermag er die Wahrheit nicht zu unterscheiden.
39. Gott hat den Menschen gleich einem Schatten geschaffen, wer soll diesen richten, wenn die Sonne untergegangen?
40. Nichts ist gewiss als allein das Ungewisse, und nichts elender und aufgeblasener als der Mensch.
41. Von allen Werken Gottes ist dem Menschen nichts unbekannter als die Spur des Windes.
42. Nicht jeder huldigt jedem, Gott noch Mensch.
43. Was dich am höchsten dünkt, wird dich verderben, der Wahn, etwas zu sein.
44. Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge.
45. Den Menschen ziemt es schön, als Strebliche zu denken.
46. Was plagst du mit ewigen Plänen deinen unmündigen Geist.
47. Die Urteile des Herrn sind eine große Tiefe.
48. Ich bestimme nichts (setze nichts fest).
49. Ich verstehe nicht.
50. Ich enthalte mich des Urteils.
51. Ich erwäge.
52. Geleitet von den Sitten und den Sinnen.
53. Abwechselnd urteilend.
54. Ich begreife nicht.
55. Ebensowenig.
56. Ohne Schwanken.
Diesen Turm kann man noch heute besichtigen. Er ist im Übrigen das einzige Bauwerk des Schlosses Montaigne, dass den verheerenden Brand Ende des 19. Jahrhunderts im originalen Zustand übersteht:"Bin ich zu Hause, so kehre ich oft in meine Bibliothek ein, von der aus ich auch einen Überblick über Haus und Hof habe. Stehe ich auf der Schwelle, so sehe ich unter mir meinen Garten, meinen Wirtschaftshof, meine Hof und die meisten Gebäude meines Anwesens. Da blättere ich bald in diesem Buch, bald in jenem, ohne Plan und Methode, ohne allen Zusammenhang. Bald sinne ich nach, bald mache ich Auszüge und diktiere im Auf- und Abgehen meine Träumereien. Meine Bibliothek ist im dritten Stockwerk eines Turms. Im ersten Stock ist meine Kapelle, im zweiten ein Wohnzimmer mit Nebenräumen, wo ich mich oft niederlege, um für mich zu sein. In früheren Zeiten war das Bibliothekszimmer der Raum im Hause, den man am wenigsten benützte. Ich bringe daselbst die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden des Tages zu."
1572-1573
Montaigne verfasst das erste Buch der Essais (von lat. exagium=Wägen, Gewicht - von franz.=Versuch, Probe). Am 24. August 1572 kommt es in Paris zu einem traurigen Höhepunkte des religiösen Bürgerkriegs, der sogenannten Bartholomäus-Nacht. Die katholische Königsmutter Katharina de Medici trägt die Verantwortung für die Ermordung von über 4000 Hugenotten, die in dieser Nacht abgeschlachtet werden.
Montaigne wird selbst in die Strudel des Bürgerkriegs geraten, als Diplomat, als Gefangener, als Soldat, als Verzweifelter über die Bösartigkeit des Menschen:"Ich lebe in einer Zeit, in der wir durch die Zuchtlosigkeit unserer Bürgerkriege an unglaublichen Beispielen die Fülle haben, und man findet in der alten Geschichte keine ungeheuerlicheren, als wir sie täglich vor Augen sehen. Aber das hat mich keineswegs dagegen abgestumpft. Ich hätte es kaum geglaubt, ehe ich es gesehen hatte, dass es so scheusälige Seelen geben könne, die um reiner Mordlust willen Mord begehen: andere Menschen zerhacken und ihnen die Glieder abhauen; ihren Geist anspannen, um Unbekannte foltern und neue Todesarten zu erfinden, ohne Feindschaft, ohne Vorteil, ohne anderes Ziel, als sich am ergötzlichen Schauspiel der erbärmlichen Gebärden und Zuckungen, des kläglichen Ächzens und Wimmerns eines qualvoll mit dem Tode ringenden Menschen zu weiden. Denn dies ist der äußerste Grad, den die Grausamkeit erreichen kann."
Montaigne, der das agnostische "Que sais-je", seine skeptische Haltung der Urteilsenthaltung 1576 auf einer Schaumünze mit dem Bild einer Waage prägen läßt, wird zu einem Meister des Lavierens. Das rechnet er sich selbst nicht als Leistung an, sondern wahrhaftig als Glücksfall. Karl IX. beruft Michel de Montaigne zum königlichen Kammerherrn (Gentilhomme ordinaire de la chambre du roi).
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